Zum Inhalt springen

Höhere Gewalt (Force Majeure) für ukrainische Unternehmen

Die ukrainische Industrie- und Handelskammer (The Ukrainian Chamber of Commerce and Industry (“CCI of Ukraine”)) hat festgestellt, dass die militärische Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine, die zur Ausrufung des Belagerungszustandes ab 05:30 Uhr am 24. Februar 2022 für 30 Tage geführt hat, als Situation höherer Gewalt (Force Majeure) für ukrainische Unternehmen zu betrachten ist. Unsere niederländischen Anwälte für Vertragsrecht erhalten derzeit viele Anfragen betreffend Geschäfte mit ukrainischen Unternehmen und auch zu den weiteren Konsequenzen für die Lieferkette im Rahmen der Fertigungsindustrie. Die Einstufung der Situation als ein Fall von höherer Gewalt für ukrainische Unternehmen durch die ukrainische IHK, ist nachvollziehbar. Bei der Frage nach der Auslegung der Klausel über höhere Gewalt zwischen den Parteien, müssen jedoch auch die geschlossenen Handelsverträge berücksichtigt werden. Dieser Artikel dient einem kurzen Überblick über die derzeitige Situation und die Art und Weise zu verschaffen, wie diese vor dem Hintergrund bestehender Handelsabkommen zu bewerten ist.

WAS IST HÖHERE GEWALT (force majeure)?

Von höherer Gewalt spricht man, wenn eine vertragliche Pflichtverletzung vorliegt, die dem Schuldner, in diesem Fall dem Unternehmen in der Ukraine, nicht zuzurechnen ist. Dies ist der Fall, wenn die Pflichtverletzung nicht auf ein Verschulden des Schuldners zurückzuführen ist und auch nicht in dessen Risikosphäre fällt. Da viele Organisationen und Unternehmen in der Ukraine direkt vom Krieg betroffen sind, haben sie Probleme, ihre Handelsverträge zu erfüllen. So sind viele etwa derzeit nicht in der Lage, Produkte herzustellen oder zu vertreiben, als Handelsvertreter tätig zu sein oder ein Franchisekonzept zu betreiben. Auch Liefervereinbarungen sind derzeit schwierig, wenn nicht gar unmöglich zu erfüllen. Zu denken ist insoweit etwa an die Herstellung von Produkten (vor allem in der Landwirtschaft), an vereinbarte Lieferfristen und andere vertragliche Bestimmungen, wie z. B. Garantien.

Im Fall von höherer Gewalt (Force Majeure) für ukrainische Unternehmenkann eine Vertragspartei zwar eine vertragliche Verpflichtung verletzt haben, dies jedoch nicht schuldhaft. Dies bedeutet, dass ein Anspruch auf Schadensersatz oder die Einhaltung von Lieferfristen nicht besteht. Die ukrainische Industrie- und Handelskammer („CCI of Ukraine“) schätzt die Situation höherer Gewalt inzwischen auf mindestens 30 Tage, allerdings wäre auch eine Ausweitung dieser Frist nicht überraschend.

DIE UKRAINISCHE INDUSTRIE- UND HANDELSKAMMER („CCI OF UKRAINE“)

In Anbetracht dessen bestätigt die ukrainische Industrie- und Handelskammer, dass diese Umstände vom 24. Februar 2022 bis zu ihrem offiziellen Ende außergewöhnlich, unvermeidlich und objektiv sind. Dies gilt für Unternehmen und/oder natürliche Personen, die Verträge, gesonderte steuerliche und/oder sonstige Verpflichtungen, deren Erfüllung gemäß den Vertragsbedingungen erfolgt ist, sowie für gesetzliche oder sonstige Vorschriften abgeschlossen haben. In den Fällen, in denen die Leistung aufgrund des Krieges nicht innerhalb der vereinbarten Frist erbracht werden kann, gilt die Einordnung als höhere Gewalt (Force Majeure) für ukrainische Unternehmen.

KLAUSELN ÜBER HÖHERE GEWALT IN HANDELSVERTRÄGEN

Die von der Europäischen Union, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten verhängten Sanktionen wirken sich auf Handelsverträge aus. Unabhängig von der Stellungnahme und dem Vorgehen der ukrainischen IHK sollte sorgfältig geprüft werden, wie die Handelsverträge mit Ihrem ukrainischen Handelspartner (oder mit einer nachfolgenden Partei in der Lieferkette, die von den Sanktionen und Handelshemmnissen infolge der Situation betroffen ist) gestaltet sind.

AUSLEGUNG VON KLAUSELN ÜBER HÖHERE GEWALT IN INTERNATIONALEN VERTRÄGEN

Die Art und Weise, wie Klauseln über höhere Gewalt strukturiert sind, entscheidet darüber, ob sie erfolgreich geltend gemacht werden können. Wenn eine solche Klausel erfolgreich ist, kann eine Vertragspartei in der Lage sein, den Vertrag (vorübergehend) zu kündigen oder aufzulösen, von der Erfüllung einiger oder aller ihrer Verpflichtungen aus dem Vertrag entbunden zu werden oder das Recht haben, die Erfüllung auszusetzen oder eine Verlängerung der Erfüllungsfrist zu verlangen.

In diesem Fall ist die Auslegung und damit die Absicht der Partei entscheidend. In der Praxis wird in der Regel befolgt, was die Parteien auf dem Papier zugesagt haben. Bei der Berufung auf eine Klausel über höhere Gewalt geht es ausdrücklich nicht darum, sich aus einem schlechten Handelsvertrag zu befreien und diesen Trumpf als gelegenes Argument zu nutzen. Wenn die Klausel über höhere Gewalt bei Anwendung der oben genannten Auslegungsregeln die Umstände, mit denen Sie konfrontiert sind, nicht abdeckt, wird eine Berufung hierauf keinen Erfolg haben.

SIND KRIEG UND SANKTIONEN HÖHERE GEWALT IM RECHTLICHEN SINNE?

In vielen handelsüblichen Verträgen wird häufig auf den Begriff „Krieg“ verwiesen und darauf, dass dies ein Grund ist, sich auf höhere Gewalt zu berufen. Streng genommen stellt sich dann die Frage, ob tatsächlich Krieg herrscht. Wie aus der Situation zwischen der Ukraine und Russland bekannt ist, haben beide Länder eine unterschiedliche Interpretation des Konflikts. So hat Russland etwa keine Kriegserklärung abgegeben, und es stellt sich die Frage, ob die aktuelle Situation unter eine solche (Standard-)Formulierung einzuordnen ist. Vieles kann von der im Handelsvertrag gewählten Terminologie abhängen. Die Erfahrung zeigt, dass zum Zeitpunkt der Auftragsvergabe wenig oder gar nicht darüber nachgedacht wurde (wir haben dies bereits bei der Covid-19-Frage in Verträgen erlebt). Wenn Sie Geschäfte mit der Ukraine (oder natürlich auch mit anderen Ländern) machen, sollten Sie darüber nachdenken, „Konflikt“ oder „Feindseligkeiten“ oder gegebenenfalls „Friedensmission“ in Ihren Vertrag aufzunehmen.

Die Frage der Sanktionen ist in gewisser Weise komplexer. Sie wird in Handelsverträgen nicht oft als Grund für höhere Gewalt aufgeführt, könnte aber durchaus dazugehören. Auch dies ist eine Frage der individuellen Vereinbarung. Es ist gut zu wissen, dass die Vertragspartei prüfen wird, ob die Unfähigkeit zur Leistung die Folge der betreffenden Situation ist.

Dennoch bietet das allgemeine Recht oft eine Lösung, jedenfalls nach niederländischem Recht. Die Unterbrechung Ihrer Lieferkette kann auch speziell abgedeckt sein oder unter allgemeinere Klauseln über höhere Gewalt fallen, die in Handelsverträgen üblich sind. Darüber hinaus enthält das niederländische Bürgerliche Gesetzbuch auch eine allgemeine Vorschrift über höhere Gewalt, der Ihnen einen dicken Strich durch die Rechnung machen kann.

AUF INTERNATIONALE VERTRÄGE UND HÖHERE GEWALT SPEZIALISIERTER RECHTSANWALT

Wenn Sie sich von einem auf internationale Verträge und höhere Gewalt spezialisierten Anwalt in den Niederlanden beraten lassen möchten, zögern Sie bitte nicht, uns zu kontaktieren. Wir beraten international tätige Unternehmen bei der Änderung von Handelsverträgen, deren Erfüllung oder deren vorübergehender Nichterfüllung, zum Beispiel aufgrund höherer Gewalt. Die Bestimmungen in Ihrem eigenen Handelsvertrag sind auch für die Frage von Bedeutung, ob und wie lange Verpflichtungen ausgesetzt werden können. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an Remko Roosjen, einen auf Vertragsrecht spezialisierten Anwalt.

Remko Roosjen

Remko Roosjen

Remko leitet das Team Handelsrecht in Amsterdam bei MAAK als Anwalt für Vertragsrecht in den Niederlanden und ist Mitglied des German Desk der MAAK. Aufgewachsen im deutsch-niederländischen Grenzgebiet, kennt Remko die kulturellen und rechtlichen Unterschiede zwischen beiden Ländern und setzt dieses Wissen ein, um seine Mandanten in grenzüberschreitenden Fällen auf Deutsch optimal zu beraten und in juristischen Prozessen in den Niederlanden zu vertreten. Website Profil anschauen oder LinkedIn Profil anschauen.